Die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Pflegeheimen im Rahmen der Corona-Pandemie verstoßen in weiten Teilen gegen das Grundgesetz. Das ist das Ergebnis eines Rechtsgutachtens, das der Mainzer Verfassungsrechtler Prof. Dr. Friedhelm Hufen im Auftrag der BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen erstellt hat. Die BAGSO fordert Politik, Behörden sowie die Verantwortlichen in der stationären Pflege nachdrücklich auf, die Grundrechte der Betroffenen zu wahren. Sie tut dies mit besonderer Dringlichkeit, weil vielerorts Pflegeeinrichtungen Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen angesichts gestiegener Infektionszahlen wieder verschärfen.
Der Gutachter hat begründete Zweifel daran, dass das Infektionsschutzgesetz in seiner geltenden Fassung eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die gravierenden Eingriffe in die Grundrechte von Menschen in Pflegeeinrichtungen darstellt. Auch die Rechtsverordnungen der Länder, die sogenannten „Corona-Verordnungen“, müssten konkretere Vorgaben machen. Sofern die Verordnungen tägliche Besuchsmöglichkeiten vorsehen, ist dies für die Heimleitungen verbindlich. Die zuständigen Behörden haben eine Schutzpflicht, die sich nicht nur auf das Vermeiden einer Ansteckung mit COVID-19, sondern auch auf die Wahrung der Grund- und Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner und ihrer Angehörigen bezieht.
Dem Gutachten zufolge müssen die negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung viel stärker in den Blick genommen werden. Das Leiden von Demenzkranken unter einer für sie nicht begreifbaren Isolation sei dabei besonders zu berücksichtigen. Eine niemals zu rechtfertigende Verletzung der Menschenwürde liege in jedem Fall vor, wo Menschen aufgrund von Besuchsverboten einsam sterben müssen.
Die BAGSO appelliert an die Politik in Bund und Ländern, die Ermessens- und Beurteilungsspielräume für Behörden, Heimträger und Heimleitungen deutlich stärker zu beschränken, als dies bislang der Fall ist. Dabei müssen die Unverletzlichkeit der Menschenwürde und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sichergestellt werden. Das bedeutet, dass ein Zugang zu sterbenden Menschen immer möglich sein muss. Andere Heimbewohner müssen regelmäßig und in angemessener Form Besuch erhalten können – in jedem Fall über eine kurze Begegnung hinter Plexiglas hinaus. Insbesondere auf demenziell erkrankte Menschen wirkt ein solches Ambiente verstörend.
Die BAGSO ruft Gesundheitsministerien, Heimaufsichten, Gesundheits- und Ordnungsämter auf, die betroffenen Menschen auch vor unverhältnismäßigen oder sonst unzulässigen Eingriffen in ihre Grundrechte zu schützen. Von Heimträgern und Heimleitungen verlangt die BAGSO, dass sie nur solche Einschränkungen anordnen, für die es eine eindeutige Rechtsgrundlage gibt. Außerdem müssen sie die Spielräume, die die jeweils aktuelle Verordnung lässt, im Sinne der Betroffenen ausschöpfen. Bei der konkreten Ausgestaltung müssen sie die Bewohnervertretungen einbeziehen.
Die BAGSO ruft Politik und Verwaltung dazu auf, die Verantwortlichen in den Heimen bei ihren Anstrengungen zu unterstützen. Hygienepläne müssen darauf ausgerichtet sein, Besuche in Sicherheit zu ermöglichen, nicht sie zu verhindern. Die zwischenzeitlich verfügbaren Antigen-Schnelltests müssen wie versprochen prioritär in Pflegeheimen eingesetzt werden. Um sicherzustellen, dass ausreichend qualifiziertes Personal die Tests durchführen kann, können beispielsweise Studierende mit medizinischen Grundkenntnissen und entsprechender fachlicher Einweisung eingesetzt werden.
Im Rechtsgutachten wurde die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie untersucht. Prof. Dr. Friedhelm Hufen ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Mainz sowie Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz a.D. Das Gutachten kann auf www.bagso.de heruntergeladen oder kostenlos bestellt werden.